Sätze wie der in der Überschrift habe ich hassen gelernt. Besonders am Spieltisch. Unter diesen Umständen ist es vielleicht kein gutes Omen, einen Gastbeitrag (vielen Dank an Jörg und Karsten an dieser Stelle) ebenso zu beginnen. Aber so ist eben das Thema: Die Last mit den Regelwerken, wenn die Spieler sie (besser) kennen (als ihre Mitspieler und/oder der SL) und wie ich als SL damit umgehe.
Zur weiteren Einleitung: Ich lei(d/t)e vorwiegend D&D 3.5 – ganz einfach, weil es eines meiner ersten Systeme war, ich es lange und gerne gespielt habe, und über die Jahre eine Menge Papier darüber angesammelt habe. Aber offenbar nicht genug. Ich besitze inzwischen knapp 30 Regelwerke, Accessoires und Handbücher (offizielles Feder & Schwert bzw. Wizards of the Coast Zeugs übrigens), die mir die Breite eines Standard-IKEA-Billy-Regals füllen. Das dürfte also ein guter Meter sein und damit insgesamt ein paar gute tausend Seiten Text. Ich habe weniger Fachliteratur für mein Studium, als Rollenspielliteratur.
Dennoch ist es nicht genug.
Bewusst ein regellastiges System zu spielen und sich dann über die vielen Regeln zu beschweren, ist, zugegeben, eher wenig sinnvoll. Es geht mir auch weniger um die reine Masse, sondern vielmehr um den falschen (besser: richtigen) Umgang damit. Grundsätzlich sehe ich Regeln nämlich als Hilfe und als Angebot für den Spieler.
Und jetzt kommt der theoretische Teil des Artikels
Regeln als Hilfe bedeutet vor allem, dass bei einem Problem im Spielfluss eine Standardvorgehensweise (nämlich nach den Regeln) gewählt werden kann, um dieses Problem zu lösen. Letztlich sind solche Probleme Fragen, die mit Plausibilität und Dramaturgie des Spiels eng verbunden sind: Eine Schwimmen-Probe verlange ich dem Kämpfer, der in voller Rüstung in einen Fluss springt, vor allem aus zwei Gründen ab – erstens ist es plausibel (also „glaubhaft“, ich weigere mich strikt, das Wort Realismus in Bezug auf Rollenspiel in den Mund zu nehmen, weil ich keine Lust habe, erst großartig den Begriff der „Realität“ derart umzudefinieren, dass mir keiner mehr „Aber Drachen und Magie sind realistisch, ja?“ weinen kann…), dass er versinkt wie ein Stein und zweitens ist es spannender, wenn er vielleicht absäuft. Regeln als Angebot bezieht sich vor allem auf solche Geschichten wie „vorgebene“ Zauber. Nein, der Kanon der Zauber ist nicht abschließend. Aber für den Fall, dass du, lieber Magier-Spieler, gerne eine Feuerkugel werfen möchtest, die bei Aufprall in einer großen Stichflamme explodiert: Nennt sich Feuerball und macht „Stufe an w6“ Schaden, erfolgreicher Reflex-Wurf halbiert. Der Effekt von Regeln ist also, dass sie der Gruppe eigentlich das Leben erleichtern sollen, da sie einerseits (potentiell) ständig auftretende Probleme oder aber Wünsche an den gemeinsamen Vorstellungsraum in einer Art behandeln, die ein sofortiges Anwenden ohne großartige Diskussion möglich macht.
Regeln sollen Diskussionen vermeiden
…damit wir mehr spielen können. So zumindest meine Ansicht. Leider sind gerade die Mechanismen, die Diskussionen vermeiden sollen, oft Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen. Und das nicht nur über ihre Auslegung – oft (und das dann schlimmer!) steht ihre grundsätzliche Anwendbarkeit in Frage. Nicht jede Regel, die für ein System existiert, ist für eine Gruppe grundsätzlich sinnvoll in ihrer Anwendung, das kommt eben sehr stark auf den Spielstil und den Flair der Kampagne an. Darüber hinaus ist jede Regel eine Konvention, an die man sich zu halten hat (sonst bräuchte man sie nicht aufzustellen) – aber damit auch eine, die zumindest vage im Hinterkopf („Da war doch was…?!“) haben sollte; andernfalls entsteht wiederum Streit über ihre Anwendung (oder Nichtanwendung). Jede Regel mehr birgt also bei ihren Vorteilen auch ein gewisses Risiko. Ein Risiko, das mit wachsendem Regelumfang eben mitwächst.
Die zweitgrößte Motivation, einige Regeln von einer Anwendbarkeit aufs Spiel auszuschließen, ist die, dass Regeln den gemeinsamen Vorstellungsraum entscheidend prägen und mitgestalten: In „meiner“ Version der Vergessenen Reiche z.B. gibt es die Grundklasse „Mönch“ nicht (erinnert das jemanden an „The Gamers 2 – Dorkness Rising“?), weil ich sie für meine zumeist westlich orientierte mittelalterliche Fantasy-Welt schlicht unpassend finde. Ebenso wenig möchte ich dementsprechend auch „Ninja“, „Samurai“, „Shugenja“ oder „Ronin“ am Hof eines „Standard-Fantasy-Königs“ herumspringen haben. Es gehört eben maßgeblich zu meinem Spielspaß als SL, eine halbwegs stimmige (plausible) Spielwelt zu haben. Auch darüber besteht dann häufig Uneinigkeit – denn der Spieler mit der aus meiner Sicht völlig abwegigen Idee hat sie mir ja schließlich nicht umsonst vorgebracht. Wer keinen Samurai spielen will, fragt seinen Spielleiter nicht, ob man da nicht vielleicht ’ne Side-Quest deichseln könnte…
Dementsprechend oft wird auf ein kategorisches „Nein“ als Antwort auf eine solche Frage (Bitte?) erwidert, es stünde doch „in den Regeln“. Ja, tut es. Nein, ich will trotzdem nicht, dass Du es spielst. Und daher habe ich gegen den oben zitierten Satz, der mir ein total cooles neues Regelkonstrukt aus dem „Buch der neuen Regelvarianten Volume 35“ anpreist, eine gewisse Abneigung entwickelt.
Die Praxistips
Nach endlosen Diskussionen, nächtelangen „Streits“ und Streits, E-Mails und Forenposts bin ich schließlich auf ein paar Punkte gekommen, mit denen nicht nur ich, sondern auch meine Spieler leben können. Und wenn ich nicht narzistisch genug wäre, sie teilen zu wollen, hätte ich mir die Vorrede gespart. Also, here we go:
Begrenze den Umfang – Eigentlich der Kern der gesamten Thesen dieses Artikels. Warum das sinnvoll ist, steht oben. Wie ihr das euren Spielern genau verkauft, auch. Aufzählungen jeweils nicht abschließend. Als absoluter Grundsatz gilt für mich: Was nicht zum regulären Kern zählt, gilt nicht. Soll heißen: Wenn ich D&D 3.5 spiele, spiele ich D&D 3.5 und nichts anderes! Dass die Spieler mit Ideen aus beispielsweise Shadowrun um die Ecke kommen, ist mir noch nicht passiert, dafür gibt es aber noch D&D 3.0, AD&D oder D&D 4E (oder auch Pathfinder) mit einer Menge interessanter Regel-Angebote an die Spieler. Die werfen aber zusätzlich zu den oben genannten Problemen noch Anpassungsfragen, Balancing-Probleme und teilw. Regelkollisionen auf. Also noch mehr Diskussionsstoff. Also fällt das schonmal gleich aus. Das Spiel kann man dann entsprechend der „Kampagnen-Flair“-Maxime problemlos weitertreiben. Spiele ich regional zentriert im äußersten Süd-West-Zipfel einer Kampagnenwelt kann ich die drei Zusatzbücher zum äußersten Nord-Ost-Zipfel getrost außer Acht lassen…
Habe schnellen Zugriff – Bezieht sich vor allem auf den Fall der Fälle, in dem die Regel ihren Zweck verfehlt – und Diskussionen auslöst. Meiner Erfahrung nach bleibt es (viel zu) oft am Spieleiter hängen, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Eine solche hat aber vor anderen Spielern (gerade den „Rules-Lawyern“…) nur dann Bestand, wenn sie einigermaßen fundiert, d.h. anhand des Regeltexts gefällt wurde. Das ist bei der Sonder-Spezial-Regel aus dem hinterletzten Fan-Forum manchmal nicht ganz einfach (ganz abgesehen davon, dass dieses Forum zmd. bei mir nach der obigen Maxime völlig unerheblich wäre…). Ich lege daher regelmäßig fest, dass nur das an Regeln an einem Abend gilt, was ich am jeweiligen Abend in Papierform vorliegen habe. Es gilt also nur das, was ich schnell nachprüfen kann, unabhängig davon, ob die Elektronik funktioniert (tut sie in der Regel nicht nur beim SL…). Dass ich ausdrücklich Papier verlange, hat einerseits den Vorteil, dass es für mich immernoch angenehmer zu lesen ist, andererseits schleppen meine Spieler dann nicht immer wirklich alles mit…
Kodifiziere Hausregeln – Einen „Gruppenvertrag“ vorzuschlagen habe ich mich noch nicht getraut, auch wenn ich das Konzept ziemlich genial finde. Aber gerade Ausnahmen und Hausregeln verdienen es, zu Papier gebracht zu werden. Denn nur so verhindert man, dass eine Diskussion, die einmal womöglich Stunden in Anspruch nahm, wieder hochkommt, weil man sich uneins über die Lösung ist, die man gefunden hatte…
Verlagere Diskussionen – und zwar auf Zeitpunkte außerhalb der Spielsitzungen. Das bedeutet für mich vor allem, dass ich als Spielleiter darauf bestehe, im Zweifel nicht unbedingt Recht, aber auf jeden Fall das letzte Wort zu haben. „Machen wir für heute so als Hausregel. Wie wir das künftig machen, können wir dann ja bis zum nächsten Mal besprechen.“ zeigt in aller Regel die gewünschte Wirkung.
„Aber das wär‘ doch ein total tolles Konzept…!“
„Ja, bestimmt. Aber nicht in meiner Kampagne.“ – in aller Regel bin ich diplomatischer.
Kern des Problems ist in solchen Fällen, die von den (zumeist praktisch motivierten) Erwägungen der obigen Grundsätze nicht oder nicht ganz erfasst werden, der „gemeinsame“ Vorstellungsraum, gewissermaßen die Bühne des gemeinsamen Spiels.
Hier können Regeln nicht weiterhelfen. Oder anders formuliert: Regeln (als abstrakte, mathematische Konstrukte der Spielmechanik) aufzustellen ist erst sinnvoll, wenn man den gemeinsamen Vorstellungsraum hinreichend bestimmt abgesteckt hat. Ich habe allerdings vermehrt das Gefühl, dass viele Spieler versuchen, den Vorstellungsraum über die Regeln zu definieren, statt anders herum. Das mag in der Realität (in gewissen Maßen…) funktionieren, aufs Spiel bezogen halte ich es allerdings für fehlerhaft.
Und so schließt sich der Kreis zur Einleitung: Sicher gibt es in diesem oder jenem Regelbuch eine ziemlich coole Extra-Regel oder eine spezielle Variante oder einfach nur eine Möglichkeit, andere Regeln „effektiv“ zu kombinieren. Erstens gibt es solche coolen Sachen auch in den vorliegenden Regeln. Und zweitens, und das viel wichtiger: Lieber Spieler, wer immer die Regeln für deine spezielle Gruppe aufgestellt hat, wird sich etwas dabei gedacht haben. Im Idealfall warst du dabei und hast mitentschieden – dann halt dich dran.
Oder du hast nicht mitentschieden und (wie vermutlich im absoluten Großteil der Runde) diese Arbeit auf den SL abgewälzt – dann halt die Klappe.
CeCe ist Student Anfang 20 und seit gut einer Dekade begeisterter Rollenspieler in so ziemlich allen Spielarten und Settings. Interessant sind für ihn vor allem die schauspielerischen und simulationistischen Aspekte des Spiels, sowie, natürlich, das soziale Element des Gruppenerlebnisses. Das hält ihn aber nicht davon ab, mit Regeln zu spielen, wie mit LEGO-Steinen…
CeCe bittet um Diskussion in den Kommentaren, nicht im Forum.