Wenn böse Charaktere lieb zueinander sind

Von CeCe gibt es einen neuen Gastbeitrag, der von meinem Beitrag über böse Gruppen angeregt wurde. Er gehört zum Dezember RSP-Blogs Karneval – kommt aber leider erst im Januar online, weil ich am Jahresende offline war. Das bitte ich zu entschuldigen. Von CeCe stammt schon der Beitrag „Es gibt da ‘ne coole Sache im…
— Karsten

Karsten hat hier kürzlich über Möglichkeiten philosophiert, inwieweit eine Gruppe böser Charaktere zur Zusammenarbeit fähig ist bzw. wie man das als Spielleiter herbeiführen kann. Er hat dabei bedauert, dass er selbst Zeuge des Scheiterns eines entsprechenden Versuchs wurde. Ich habe also doppelt Glück: Ich habe erlebt dass (und als SL: wie) es klappt – und ich darf hier (erneut) als Gast davon berichten.

Eigentlich geht es sogar um zwei Runden, die aber dem gleichen Konzept folgen: Eine Gruppe Drow in (besser: unter) den Vergessenen Reichen, Lolth-gläubig und (fast) komplett chaotisch böse nach dem D&D Konzept (v3.5). Letztlich hat es sehr gut funktioniert. Und wenngleich ich (wie ich später ausführen werde) einige der von Karsten angesprochenen Mechanismen genutzt habe, einen Zusammenhalt herbeizuführen, hätte(n) diese Runde(n) auch ohne ein gemeinsames Ziel „funktioniert“; sich zumindest nicht sofort umgebracht. Es ist nämlich eben nicht so, dass sich böse Charaktere gleich umbringen, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Natürlich kann man einem verletzten Mitstreiter angesichts der Beute im Dungeon „den Rest geben“ und den eigenen Anteil an der Beute zu erhöhen. Das wäre auch durchaus „böse“.

Vor allem aber „dumm“. Gerade die Drow (und die gelten mir an dieser Stelle exemplarisch für „zivilisierte“, aber durch und durch böse Kulturen) sind chaotisch böse – nicht chaotisch dumm. Ein Mitstreiter, der sich einmal als nützlich erwiesen hat, wird auch weiter nützlich sein. Der kurzfristige Gewinn von ein paar Goldstücken oder die Genugtuung einer Beleidigung muss den langfristigen Nutzen eines eingespielten Teams aufwiegen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Dritte möglicherweise noch Pläne mit dem Opfer hatten und man sich weitergehenden Ärger einhandelt. Ein Mord, selbst wenn ihn keiner zur Kenntnis genommen hat, kann im Nachhinnein anstrengender sein, als sich vor den Dolchen desjenigen noch ein wenig länger zu schützen. Gerade Elfen leben für gewöhnlich ein paar Jährchen länger…

Und wie genau…?

Das „Geheimnis“ hinter einer funktionierenden bösen Runde, in der sich das Gekabbel der Charaktere untereinander gut im nicht-tödlichen Bereich halten kann (mal ehrlich: einem Konkurrenten eine Demütigung zuzufügen kann einen bösen Charakter doch oft mehr befriedigen, als ein Mord – und letzteren kann man in der Regel nicht wiederholen ;D ), liegt darin, die Gruppe (→ Charaktere) gut aufeinander abzustimmen.

Besser als jeder Zwang von außen, da ist ein Gruppenkonzept nicht anders als ein Plot, ist die Motivation der Charaktere. Wenn sie also in der Kooperation einen Vorteil für sich sehen, werden sie durchaus Loyalität zeigen können. Eine ebenso einfache, wie (auch andernorts) effektive Möglichkeit dafür ist, Konkurrenz untereinander zu begrenzen. Hat die Gruppe nur einen Magier und nur einen Druiden, werden beide von der Gruppe geschützt; ihr Überleben und damit ihre Fähigkeiten stehen im Interesse eines jeden Gruppenmitglieds. Hat man dagegen zwei Kämpfer mit ähnlicher Ausprägung (bswp. zwei Beidhandkämpfer oder zwei Schwert/Schild-Kämpfer), werden sie auf kurz oder lang aneinander geraten – und von der Gruppe nicht gestoppt werden: Die Kämpfer im Beispiel werden durch Eliminierung des jeweils Anderen versuchen, ihren eigenen Wert für die Gruppe (und damit ihre längerfristigen Überlebenschancen) zu steigern; die Gruppe muss bei einer (ggf. sogar amüsanten) Auseinandersetzung zwischen zwei Redundanzen nicht zwangsläufig intervenieren, da es reicht, wenn einer überlebt.

Den Rest erledigt die Umgebung: In der oben genannten Drow-Runde arbeiten die Spieler alle für ein einzelnes Adelshaus am unteren Ende der Nahrungskette in der Stadt. Allein die Tatsache, dass „das Gruppenmitglied“ ansich eine begrenzte Ressource darstellt, sorgt dafür, dass man sich gegenseitig nicht angeht und zusammen arbeitet (und dem gemeinsamen Auftrag, wenn er denn gerade besteht, auch nachgeht). Die mächtigen Feinde, die das Haus hat und auch die, die die Charaktere innerhalb der Struktur haben (so drohen einige Charaktere gerade in den sich anbahnenden Konflikt zwischen der Waffenmeisterin und dem designierten Nachfolger zu geraten) oder im Begriff sind, sich zu machen, tragen ebenfalls zu einem Klima bei, das die Zweckgemeinschaft fördert.

Fazit

Des Pudels Kern ist die Erkenntnis, dass „Moral“ nichts weiter ist, als ein Interessensfaktor eines Charakters. Existiert er nicht, fallen Plots weg, die durch diesen Interessensfaktor mit den Spielern verbunden würden; aber auch die Bindungen der Charaktere können nicht darauf basieren. Stattdessen müssen andere Interessen gewählt werden, die den Charakteren gemein sind. „Überleben“ und „Erfolg“ sind zwei Konzepte, die eigentlich jeden bösen Charakter ansprechen – wenn es nicht fast die einzigen „Motive“ seiner Handlungen sind (Drow neigen dazu…). Baut man eine Gruppe darauf auf, stehen die Chancen gut, dass sie funktioniert.

Unerlässlich ist aber eine Gruppe vernünftiger und nachdenkender Spieler, die wissen, worauf sie sich einlassen und kein Problem mit Konflikten Spieler gegen Spieler haben. Denn die sind selbst in guten Gruppen vorprogrammiert und werden bei einer bösen Runde sicher nicht fehlen…

Diskussion

Das „Barbie“-Spiel

Ich habe den Diskussionsbedarf unterschätzt. Bitte diskutiert im Forum weiter.
— Karsten

Der folgende Artikel ist eine leicht überarbeitete und umgestellte Mischung aus zwei Beiträgen im Tanelorn, die der User Kriegsklinge dort eingestellt hat. Ich denke, dass Kriegsklinge da eine wichtige Beobachtung gemacht hat, die mir nie so klar war. Aber sie trifft vollständig zu – auch ich habe schon das Barbiespiel betrieben.

Gut gefallen hat mir auch der Name „Barbiespiel“, da es so schön griffig ist. Wer einen weniger polemischen Namen sucht, der kann das im oben verlinkten Thema vorgeschlagene Mon Plaisir (MP) wählen.

TL;DR: Wer gerne zwischen den Spielrunden an seinem Charakter „herumspielt“, ohne dabei vorwiegend die mechanischen Werte zu optimieren, ist ein Barbie-Spieler. Das ist eine eigene Quelle des Spielspaßes, die eigenständig neben Spaßquellen wie dem Kampf oder dem „Besserwerden“ steht.

– Karsten

Den typischen DSA-Fan stelle ich mir als jemanden vor, der halt irgendwann mal zur Runde mitgeschnackt wurde, sich in die Details der Spielwelt verguckt hat und dann wie alle anderen in der Runde stillschweigend die Regelteile weglässt, die einfach zu sehr nerven. Alles, was manchmal umständlich ist, wird recht klaglos in Kauf genommen – man weiß es schlichtweg nicht anders. Die Regelseite ist aber auch für den Spielspaß nicht entscheidend, vermute ich mal. Der Reiz des Durchschnitts-DSAs liegt im Zusammensein mit Gleichgesinnten, dem Bewusstsein, dass man die schöne Welt betritt, die man aus den Büchern kennt, dem farbenfrohen Auskaspern der eigene Rolle vor dem Hintergrund dessen, was der SL erzählt, und viel Beschäftigung mit dem Fantasieren über die Welt und den eigene Charakter abseits des Spieltischs. In wechselnden Mischverhältnissen kommt wohl noch die Freude am Besserwerden (höhere Werte, Ausrüstung), Würfelproben (schaff ichs, schaff ichs nicht) und Spielverlaufsbestimmung durch Pläneschmieden dazu (die Spieler diskutieren untereinander das weitere Vorgehen und der SL stimmt den weiteren Verlauf der Handlung insgeheim darauf ab). Die Berührung mit den „harten“ Regeln stellt Inseln im Spielgeschehen dar.

Trotzdem denke ich, dass diese Spieler nicht auf die Komplexität der Regeloptionen verzichten möchten. Warum? Weil sie die vielen Talente, Fertigkeiten, Werte wohl in erster Linie benutzen, um den Charakter möglichst eingehend zu beschreiben und in ihrer Fantasie in der Welt zu verankern. Je detaillierter die Angaben zu Talenten, Sfs, Zaubersprüchen usw., desto plastischer das Bild des Chars, desto länger kann man sich vor und nach dem Spieleabend mit dieser Figur befassen. Die Verkörperung am Spieltisch ist gewissermaßen das, was für den Modelleisenbahner das Setzen der liebevoll bemalten Lock auf die Schienen ist – am besten noch, wenn andere zugucken und sich auch dran freuen.

Die Regeln sind in diesem Sinne zweitrangig, oder mehr: Sie sind überhuapt keine Regeln im Sinn von Steuerungselementen eines Spielgeschehens, sie sind Anreize zur Charakterträumerei, die am Spieltisch im Wechselspiel mit dem SL den anderen präsentiert wird – so ungefähr. Inwie weit die Regeln dann auch mal als echte Spielregeln fungieren, das ist sicher von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich.

Ich möchte ganz ausdrücklich sagen, dass ich diese Art des Spiels gar nicht für falsch oder verwerflich oder minderwertig halte. Im Gegenteil, ich finde es ziemlich faszinierend und viel zu wenig beachtet. Vor allem finde ich interessant, dass ein großer Teil des Spielgeschehens für jeden Spieler allein abseits der Gruppe stattfindet. Wenn es nicht von vielen womöglich als abwertend gelesen werden würde, fände ich den Vergleich mit Barbie-Spielen ganz passend. Man holt sich alle möglichen Accessoires und macht zu Hause mit der Puppe rum, und wenn man mit den anderen spielt, kommen alle diese Stories zusammen, aber gemeinsame Spielen ist keineswegs alles, was an Barbie Spaß macht.

Ich glaube bloß, dass es ein ganz großes Missverständnis ist, wenn regelseitig hier nach Möglichkeiten der Plotlenkung durch die Spieler oder bessere Taktikelemente geforscht wird. Diese Dinge sind meines Erachtens nicht der Kern des heutigen DSA – da ist man, wie hier schon gesagt wurde, mit DSA1 oder einer Umsetzung mit einem Unisystem besser bedient.

Interessant fände ich mal, ob es einen sinnvollen Weg gebe, das „Barbiespiel“ sinnvoll und offen anzusehen, als anerkannten Spielstil. Oder macht Ulisses da einfach schon alles richtig?

Zum Thema, wie bewusst das „Barbie-Spiel“ gewählt ist: Das wird wohl von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich sein. Ich vermute, dass die Leser dieses Beitrages da eher eine Ausnahme sind, weil sie eben stärker reflektieren, was sie so machen, aber vielleicht traue ich dem internetfernen Rollo jetzt doch zu wenig zu. Ich vermute ebenfalls, dass die Darstellung oben einen Extremfall darstellt und dass sich wohl im tatsächlichen Spiel noch andere Ebenen hineinmengen. Entweder je nach Situation – man schaltet nach Bedarf in den „Kampfmodus“ oder den „Entscheidungsmodus“ – oder abhängig von den Spieler – es sind doch Leute in der Runde, die heiß auf einen taktischen Kampf sind z.B. Zu den vielen faszinierenden Dingen am „Barbie-Spiel“ gehört ja auch, dass es frei mit anderen Ebenen des Rollenspiels kombinierbar ist – ein bisschen machen wir das glaube ich alle – und dass sogar Spieler, die es hauptsächlich bevorzugen, eigentlich mit fast jeder anderen Art des Rollenspiels gutmütig mitgehen, so lange man sie nicht über Gebühr unter Druck setzt, d.h., ihnen aggressiv Entscheidungen abverlangt, die über den Rahmen des Charakters hinausgehen (Plotverlauf, Scene Framing, taktische Entscheidungen mit großem Risiko für das Leben des Chars und andere Figuren).

Ich glaube wirklich, dass diese Ebene des Rollenspiels fast immer unsichtbar gemacht wird, eben weil sie sich so unauffällig in andere Spielweisen einfügt. Das meiste, was über Rollenspiel so Nachdenkliches gesagt und geschrieben wird, konzentriert sich uf das Geschehen am direkt am Tisch mit den anderen Spielern und betrachtet Regelelemente als Steuerungsmechanismen, mit denen die Spieler auf das Geschehen Einfluss nehmen. Beides geht aber am „Barbie-Spieler“ eigentlich vorbei.

Auf der Forge gab es mal das Schlagwort von der „exploration of character“ als Quelle des Vergnügens  (womit aber auch nur das Erforschen des Chars im Spielverlauf gemeint war iirc, außerdem ging es da um Charactere, die sich auch durch das Spielerhandeln verändern); Robin Laws subsumiert die „Barbies“ vermutlich als Casual Gamer oder Social Gamer, was ihnen aber ebenfalls nicht gerecht wird. Die sind ja nicht passiv oder desinteressiert oder spielen nur, um Dabeizusitzen; die Zeit und Mühe, die mir bekannte „Barbies“ in Charakterhintergründe, bewusstes Steigern (was habe ich erlebt? was wäre passend?) und Gespräche vor und nach dem Spiel gesteckt haben, kann sich aber locker mit dem Einfallsreichtum jeder Narrativistenschweinerunde messen. Die Leidenschaft richtet sich nur auf etwas ganz Anderes. Das Verhältnis von gemeinsamem Spiel und Beschäftigung abseits des Spieltisches kann sich da nahezu umkehren – die Spielrunde füttern die eigene Beschäftigung mit dem Char davor und danach.

Um noch mal zu DSA zu kommen, ich halte das (sicherlich nicht so ganz bewusste?) Bedienen dieses Spielertyps für geradezu genial und einen der stärksten Gründe für den anhaltenden Erfolg von DSA. Genial deshalb, weil es

(a) eine Menge Leute ins Rollenspiel holt, die von anderen Ebenen eher überfordert wären (nicht weil sie irgendwie minderbemittelt sind, sondern weil sie ihre Figur lieber in Ruhe alleine entwickeln und den Stand der Dinge eher mit anderen teilen, wenn sie mit dem Erreichten zufrieden sind)
(b) kaum ein anderes Spiel gibt, das Barbie so gut bringt, es ist also ein Alleinstellungsmerkmal
(c) die Leute von einem Kernproblem des Rollenspiels als Hobby ein wenig befreit, dass man nämlich eine Gruppe mit Zeit braucht, damit es stattfinden kann und
(d) – und das finde ich am Witzigsten – keine andere Ebene des Rollenspiels prinzipiell ausgeschlossen wird. Man kann also Regeln bauen, die durchaus auch eine Beteiligung am Spielverlauf ermöglichen, klar, passiert ja in DSA-Runden auch. Eingebettet ist aber die Möglichkeit zum „barBARBIEsieren“, und wer darauf steht, stürzt sich sofort drauf.

Vermutlich gibt es die stärksten „Barbie“-Tendenzen in Settings, die sehr detailliert, sehr reichhaltig und gerne auch durch andere Medien vorgeprägt sind, aber noch wichtiger scheint mir zu sein, dass die Settings starke Folien bieten, auf die man Wünsche, Träume, Sachen, die man cool findet, projizieren kann. Klingt jetzt arg psychologisierend; so a la „Weltflucht“ einerseits und „brain damage“ andererseits. Ich meine aber nicht, dass die „Barbies“ alle gestörte Kellerkinder sind, die im Spiel ausleben, was sie sich sonst nicht trauen, sondern eher positiv, dass man im Rahmen eines Spiels mit solchen Wunschrollenbruchstücken spielen kann, und zwar anders als im „Story Now!“ nicht im Spielverlauf, sondern erstmal für sich – und dann mit anderen.

Bei DSA finde ich es schwierig zu greifen, was das sein soll, während es mir bei einem anderen großen „Barbie“-Spiel, nämlich Vampire, ziemlich klar ist, wo es explizit um Sex, Verführung, Macht, Tragik eben: große Oper geht. Da leuchtet mir ein, worin die Einladung zum „barBABIE“-Spiel besteht.

Im Zusammenhang mit DSA ist immer wieder von „Märchenhaftigkeit“, „Hotzenplotzigkeit“ die Rede, es scheint also irgendwie eher um was Kindliches (nicht: Kindisches) zu gehen. Mir ist, als hätte der Prussian Gamer Settembrini da mal über deutsche Romantik etc. sinniert, da kann ich mich nur schwer drauf einlassen, weil ich die Argumentation mit dem Nationalcharakter immer etwas problematisch finde. Diesen Teil des Barbie-Spiels finde ich eh schwierig zu besprechen; ich finde es ziemlich klar, dass da verschiedene psychologische Sachen mit reinspielen, aber ich möchte eben nicht, dass es gleich nach Krankheit und Kompensation klingt … beziehunsgsweise masturbatorisch (jeder für sich, traut sich nicht zusammen mit den anderen, blabla). Erstens geht es wohl bei jedem Rollenspiel irgendwie auch bis zu welchem Grad auch immer um das eigene Innenleben, ist also nichts besonderes beim „Barbiespiel“ und zweitens ist Masturbation so an und für sich ja auch was ganz Schönes.

Außerdem wird es schwierig zu belegen sein, was da genau dahinter steckt.  Und vielleicht ist es auch gar nicht so wichtig – nur interessieren tät´s mich.

Okay, es ist schon ziemlich wahrscheinlich, dass das nie jemand bei DSA so geplant hat . Passiert ist es aber, denke ich, dennoch – aber hey, in der Evolution passiert auch alles Mögliche durch wildes Rumprobieren ohne Plan und manchmal ist das Ergebnis ganz supi.

Es gibt da ’ne coole Sache im…

Sätze wie der in der Überschrift habe ich hassen gelernt. Besonders am Spieltisch. Unter diesen Umständen ist es vielleicht kein gutes Omen, einen Gastbeitrag (vielen Dank an Jörg und Karsten an dieser Stelle)  ebenso zu beginnen. Aber so ist eben das Thema: Die Last mit den Regelwerken, wenn die Spieler sie (besser) kennen (als ihre Mitspieler und/oder der SL) und wie ich als SL damit umgehe.

Zur weiteren Einleitung: Ich lei(d/t)e vorwiegend D&D 3.5 – ganz einfach, weil es eines meiner ersten Systeme war, ich es lange und gerne gespielt habe, und über die Jahre eine Menge Papier darüber angesammelt habe. Aber offenbar nicht genug. Ich besitze inzwischen knapp 30 Regelwerke, Accessoires und Handbücher (offizielles Feder & Schwert bzw. Wizards of the Coast Zeugs übrigens), die mir die Breite eines Standard-IKEA-Billy-Regals füllen. Das dürfte also ein guter Meter sein und damit insgesamt ein paar gute tausend Seiten Text. Ich habe weniger Fachliteratur für mein Studium, als Rollenspielliteratur.

Dennoch ist es nicht genug.

Bewusst ein regellastiges System zu spielen und sich dann über die vielen Regeln zu beschweren, ist, zugegeben, eher wenig sinnvoll. Es geht mir auch weniger um die reine Masse, sondern vielmehr um den falschen (besser: richtigen) Umgang damit. Grundsätzlich sehe ich Regeln nämlich als Hilfe und als Angebot für den Spieler.

Und jetzt kommt der theoretische Teil des Artikels

Regeln als Hilfe bedeutet vor allem, dass bei einem Problem im Spielfluss eine Standardvorgehensweise (nämlich nach den Regeln) gewählt werden kann, um dieses Problem zu lösen. Letztlich sind solche Probleme Fragen, die mit Plausibilität und Dramaturgie des Spiels eng verbunden sind: Eine Schwimmen-Probe verlange ich dem Kämpfer, der in voller Rüstung in einen Fluss springt, vor allem aus zwei Gründen ab – erstens ist es plausibel (also „glaubhaft“, ich weigere mich strikt, das Wort Realismus in Bezug auf Rollenspiel in den Mund zu nehmen, weil ich keine Lust habe, erst großartig den Begriff der „Realität“ derart umzudefinieren, dass mir keiner mehr „Aber Drachen und Magie sind realistisch, ja?“ weinen kann…), dass er versinkt wie ein Stein und zweitens ist es spannender, wenn er vielleicht absäuft. Regeln als Angebot bezieht sich vor allem auf solche Geschichten wie „vorgebene“ Zauber. Nein, der Kanon der Zauber ist nicht abschließend. Aber für den Fall, dass du, lieber Magier-Spieler, gerne eine Feuerkugel werfen möchtest, die bei Aufprall in einer großen Stichflamme explodiert: Nennt sich Feuerball und macht „Stufe an w6“ Schaden, erfolgreicher Reflex-Wurf halbiert. Der Effekt von Regeln ist also, dass sie der Gruppe eigentlich das Leben erleichtern sollen, da sie einerseits (potentiell) ständig auftretende Probleme oder aber Wünsche an den gemeinsamen Vorstellungsraum in einer Art behandeln, die ein sofortiges Anwenden ohne großartige Diskussion möglich macht.

Regeln sollen Diskussionen vermeiden

…damit wir mehr spielen können. So zumindest meine Ansicht. Leider sind gerade die Mechanismen, die Diskussionen vermeiden sollen, oft Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen. Und das nicht nur über ihre Auslegung – oft (und das dann schlimmer!) steht ihre grundsätzliche Anwendbarkeit in Frage. Nicht jede Regel, die für ein System existiert, ist für eine Gruppe grundsätzlich sinnvoll in ihrer Anwendung, das kommt eben sehr stark auf den Spielstil und den Flair der Kampagne an. Darüber hinaus ist jede Regel eine Konvention, an die man sich zu halten hat (sonst bräuchte man sie nicht aufzustellen) – aber damit auch eine, die zumindest vage im Hinterkopf („Da war doch was…?!“) haben sollte; andernfalls entsteht wiederum Streit über ihre Anwendung (oder Nichtanwendung). Jede Regel mehr birgt also bei ihren Vorteilen auch ein gewisses Risiko. Ein Risiko, das mit wachsendem Regelumfang eben mitwächst.

Die zweitgrößte Motivation, einige Regeln von einer Anwendbarkeit aufs Spiel auszuschließen, ist die, dass Regeln den gemeinsamen Vorstellungsraum entscheidend prägen und mitgestalten: In „meiner“ Version der Vergessenen Reiche z.B. gibt es die Grundklasse „Mönch“ nicht (erinnert das jemanden an „The Gamers 2 – Dorkness Rising“?), weil ich sie für meine zumeist westlich orientierte mittelalterliche Fantasy-Welt schlicht unpassend finde. Ebenso wenig möchte ich dementsprechend auch „Ninja“, „Samurai“, „Shugenja“ oder „Ronin“ am Hof eines „Standard-Fantasy-Königs“ herumspringen haben. Es gehört eben maßgeblich zu meinem Spielspaß als SL, eine halbwegs stimmige (plausible) Spielwelt zu haben. Auch darüber besteht dann häufig Uneinigkeit – denn der Spieler mit der aus meiner Sicht völlig abwegigen Idee hat sie mir ja schließlich nicht umsonst vorgebracht. Wer keinen Samurai spielen will, fragt seinen Spielleiter nicht, ob man da nicht vielleicht ’ne Side-Quest deichseln könnte…

Dementsprechend oft wird auf ein kategorisches „Nein“ als Antwort auf eine solche Frage (Bitte?) erwidert, es stünde doch „in den Regeln“. Ja, tut es. Nein, ich will trotzdem nicht, dass Du es spielst. Und daher habe ich gegen den oben zitierten Satz, der mir ein total cooles neues Regelkonstrukt aus dem „Buch der neuen Regelvarianten Volume 35“ anpreist, eine gewisse Abneigung entwickelt.

Die Praxistips

Nach endlosen Diskussionen, nächtelangen „Streits“ und Streits, E-Mails und Forenposts bin ich schließlich auf ein paar Punkte gekommen, mit denen nicht nur ich, sondern auch meine Spieler leben können. Und wenn ich nicht narzistisch genug wäre, sie teilen zu wollen, hätte ich mir die Vorrede gespart. Also, here we go:

Begrenze den Umfang – Eigentlich der Kern der gesamten Thesen dieses Artikels. Warum das sinnvoll ist, steht oben. Wie ihr das euren Spielern genau verkauft, auch. Aufzählungen jeweils nicht abschließend. Als absoluter Grundsatz gilt für mich: Was nicht zum regulären Kern zählt, gilt nicht. Soll heißen: Wenn ich D&D 3.5 spiele, spiele ich D&D 3.5 und nichts anderes! Dass die Spieler mit Ideen aus beispielsweise Shadowrun um die Ecke kommen, ist mir noch nicht passiert, dafür gibt es aber noch D&D 3.0, AD&D oder D&D 4E (oder auch Pathfinder) mit einer Menge interessanter Regel-Angebote an die Spieler. Die werfen aber zusätzlich zu den oben genannten Problemen noch Anpassungsfragen, Balancing-Probleme und teilw. Regelkollisionen auf. Also noch mehr Diskussionsstoff. Also fällt das schonmal gleich aus. Das Spiel kann man dann entsprechend der „Kampagnen-Flair“-Maxime problemlos weitertreiben. Spiele ich regional zentriert im äußersten Süd-West-Zipfel einer Kampagnenwelt kann ich die drei Zusatzbücher zum äußersten Nord-Ost-Zipfel getrost außer Acht lassen…

Habe schnellen Zugriff – Bezieht sich vor allem auf den Fall der Fälle, in dem die Regel ihren Zweck verfehlt – und Diskussionen auslöst. Meiner Erfahrung nach bleibt es (viel zu) oft am Spieleiter hängen, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Eine solche hat aber vor anderen Spielern (gerade den „Rules-Lawyern“…) nur dann Bestand, wenn sie einigermaßen fundiert, d.h. anhand des Regeltexts gefällt wurde. Das ist bei der Sonder-Spezial-Regel aus dem hinterletzten Fan-Forum manchmal nicht ganz einfach (ganz abgesehen davon, dass dieses Forum zmd. bei mir nach der obigen Maxime völlig unerheblich wäre…). Ich lege daher regelmäßig fest, dass nur das an Regeln an einem Abend gilt, was ich am jeweiligen Abend in Papierform vorliegen habe. Es gilt also nur das, was ich schnell nachprüfen kann, unabhängig davon, ob die Elektronik funktioniert (tut sie in der Regel nicht nur beim SL…). Dass ich ausdrücklich Papier verlange, hat einerseits den Vorteil, dass es für mich immernoch angenehmer zu lesen ist, andererseits schleppen meine Spieler dann nicht immer wirklich alles mit…

Kodifiziere Hausregeln – Einen „Gruppenvertrag“ vorzuschlagen habe ich mich noch nicht getraut, auch wenn ich das Konzept ziemlich genial finde. Aber gerade Ausnahmen und Hausregeln verdienen es, zu Papier gebracht zu werden. Denn nur so verhindert man, dass eine Diskussion, die einmal womöglich Stunden in Anspruch nahm, wieder hochkommt, weil man sich uneins über die Lösung ist, die man gefunden hatte…

Verlagere Diskussionen – und zwar auf Zeitpunkte außerhalb der Spielsitzungen. Das bedeutet für mich vor allem, dass ich als Spielleiter darauf bestehe, im Zweifel nicht unbedingt Recht, aber auf jeden Fall das letzte Wort zu haben. „Machen wir für heute so als Hausregel. Wie wir das künftig machen, können wir dann ja bis zum nächsten Mal besprechen.“ zeigt in aller Regel die gewünschte Wirkung.

„Aber das wär‘ doch ein total tolles Konzept…!“

„Ja, bestimmt. Aber nicht in meiner Kampagne.“ – in aller Regel bin ich diplomatischer.

Kern des Problems ist in solchen Fällen, die von den (zumeist praktisch motivierten) Erwägungen der obigen Grundsätze nicht oder nicht ganz erfasst werden, der „gemeinsame“ Vorstellungsraum, gewissermaßen die Bühne des gemeinsamen Spiels.

Hier können Regeln nicht weiterhelfen. Oder anders formuliert: Regeln (als abstrakte, mathematische Konstrukte der Spielmechanik) aufzustellen ist erst sinnvoll, wenn man den gemeinsamen Vorstellungsraum hinreichend bestimmt abgesteckt hat. Ich habe allerdings vermehrt das Gefühl, dass viele Spieler versuchen, den Vorstellungsraum über die Regeln zu definieren, statt anders herum. Das mag in der Realität (in gewissen Maßen…) funktionieren, aufs Spiel bezogen halte ich es allerdings für fehlerhaft.

Und so schließt sich der Kreis zur Einleitung: Sicher gibt es in diesem oder jenem Regelbuch eine ziemlich coole Extra-Regel oder eine spezielle Variante oder einfach nur eine Möglichkeit, andere Regeln „effektiv“ zu kombinieren. Erstens gibt es solche coolen Sachen auch in den vorliegenden Regeln. Und zweitens, und das viel wichtiger: Lieber Spieler, wer immer die Regeln für deine spezielle Gruppe aufgestellt hat, wird sich etwas dabei gedacht haben. Im Idealfall warst du dabei und hast mitentschieden – dann halt dich dran.

Oder du hast nicht mitentschieden und (wie vermutlich im absoluten Großteil der Runde) diese Arbeit auf den SL abgewälzt – dann halt die Klappe.

CeCe ist Student Anfang 20 und seit gut einer Dekade begeisterter Rollenspieler in so ziemlich allen Spielarten und Settings. Interessant sind für ihn vor allem die schauspielerischen und simulationistischen Aspekte des Spiels, sowie, natürlich, das soziale Element des Gruppenerlebnisses. Das hält ihn aber nicht davon ab, mit Regeln zu spielen, wie mit LEGO-Steinen…

CeCe bittet um Diskussion in den Kommentaren, nicht im Forum.