Nazis, Indiana Jones und die White Wolf-Affäre

Ausgehend von der „White Wolf“-Affäre möchte ich ein paar eher unsortierte Gedanken äußern. Der Shitstorm ist schon abgeflaut, hoffe ich, so dass ich mich dazu äußern kann, ohne in ein Lager einsortiert zu werden.

„White Wolf“-Affäre?

Vampire: The Masquerade, v5, White Wolf Entertainment, 2018

Um was geht es?

White Wolf Entertainment ist der Verlag hinter Vampire v5. Zu dieser Neuauflage des alten Vampire: The Masquerade gab es bisher zwei elektronische Ergänzungsbände, die aufgrund der Kritik an ihren Inhalten gerade nicht mehr erhältlich sind. Konkret geht es um diesen Textabschnitt.

Um den Text einschätzen zu können, muss man von dem realweltlichen Umgang mit Homosexuellen in Tschetschenien wissen. Dort ist die Vornahme homosexueller Handlungen eine Straftat, darüber hinaus werden Homosexuelle in spezielle Gefängnisse eingesperrt. Es ist zu Folter und Todesfällen gekommen (Quelle: Wikipedia).

In dem Buch wird die Spielwelt-Realität so beschrieben: Um von der grausamen Herrschaft der Vampire in Tschetschenien abzulenken, werden die Medien durch die Verfolgung von Homosexuellen manipuliert: Sie berichten über die (auch in der Spielweltrealität stattfindende) Verfolgung der Homosexuellen und suchen die Ursache in der Scharia. Damit sind sie abgelenkt und bemerken die Herrschaft der Vampire nicht.

Diese Umdeutung der Verfolgung stieß auf Kritik, die White Wolf dann angenommen hat. Man streicht u.a. alle Hinweise auf Tschetschenien in den Büchern. Der Grund:

The result was a chapter that dealt with a real-world, ongoing tragedy in a crude and disrespectful way.

Ohne Zweifel reden wir hier von einer aktuell in der echten Welt stattfindenden Tragödie, über die ich nur durch diese Diskussion überhaupt aufmerksam wurde.

Weitere Details zu dem Thema findet man auf wodnews.blog, insbesondere Umstrukturierungen bei White Wolf und Anarch und Camarilla Band zurückgezogen und späterer Veröffentlichungstermin.

Ist es – weil es sich um eine real-life-Tragödie handelt, die Nutzung im Rollenspiel unzulässig?

Es ist sicherlich sehr viel respektvoller, dieses Thema nicht für den Hintergrund eines Spieles zu verwenden. Aber auch richtig? Das gilt es näher zu betrachten – denn Tragödien sind sehr oft der Hintergrund von Unterhaltungsprodukten. Flugzeugabstürze, Weltkriege, der Fall von Troja, Serienmorde, selbst das Leben im KZ ist von Hollywood schon zu Spielfilmen gemacht worden. Mir persönlich ist deutlich in Erinnerung geblieben, dass meine damalige Lebensgefährtin mitten im Film aus „Titanic“ rausgerannt ist. Ihr folgend fand ich sie in Tränen aufgelöst vor. Sie ist eine Estin, und für ihre Generation war der Untergang der Estonia die nationale Tragödie. Der Untergang der Titanic als Kulisse für eine Romanze war daher für sie unerträglich. Da der Film außerordentlich erfolgreich war, hat das wohl die Mehrheit der Zuschauer anders gesehen.

Es kommt also zumindest auch erheblich auf den Empfänger an, ob ein angemessener Umgang mit einer Tragödie gewählt wurde.

Umgang mit Tragödien

Ein Käfig voller Helden / Stacheldraht und Fersengeld / Hogan’s Heroes

Nicht respektvoll mit Tragödien umzugehen ist natürlich kein Problem, dass exklusiv White Wolf vorbehalten ist. Ich bin ziemlich sicher, dass das Leben in von Nazis betriebenen Kriegsgefangenenlagern kein Spaß war – anders als die Serie Hogan’s Heroes von 1965 (in Deutschland als „Stacheldraht und Fersengeld“, später dann noch klamaukiger als „Ein Käfig voller Helden“) es erscheinen lässt. Ist es „crude and disrespectful“ gegenüber den tatsächlichen Kriegsgefangenen? Ohne Zweifel. Erschienen 1965, zwanzig Jahre nach Kriegsende. Wer 1942 als 25-Jähriger in ein Kriegsgefangenenlager kam (und überlebte), der war 1965 dann erst 48. Zu früh für eine Klamaukserie? (Ja, mir ist bekannt, welche Freiheiten sich die deutsche Synchronisation nahm. Aber insoweit: Erst Recht!)

„Adolf: Äch bin wieder da!“ von Walter Moers, Eichborn 2007

Umgekehrt habe ich Walter Moers immer sehr für seine „Adolf“-Comics geschätzt. 2007 war es unglaublich befreiend, sich über Hitler erstmals lustig zu machen. Bis dahin war ein geradezu ehrfurchtsvoller Umgangston üblich: Nicht weil man ihn schätzte, sondern weil er so unglaublich böse war, dass man der Zustimmung zu seinen Taten verdächtigt wurde, wenn man anders als in gedämpften Tonfall über ihn sprach. Etwas, was Hitler durch diese Überhöhung für seine Anhänger vermutlich sogar attraktiver machte – selbst über Gott werden Witze gemacht, nur über Adolf nicht! 2007, 62 Jahre nach Kriegsende macht Moers dann eine Witzfigur aus Hitler. Crude and disrespectful? Aber hallo! Ist es angemessen, über einen millionenfachen Mörder Witze zu machen? Über jemanden, dessen Verbrechen so umfangreich sind, das sie kaum auflistbar sind? Zu einem Zeitpunkt, als noch Menschen leben, die ihre Angehörige an die Nazimordmaschine verloren haben?

Schindlers Liste, (c) Universal Pictures Germany GmbH, 2004

Alle genannten Beispiele sind Beispiele für einen zweifelhaften, zumindest angreifbaren Umgang mit einer Tragödie. Im Gegenbeispiel seien die Kunstwerke erwähnt, die – trotz kommerzieller Absicht – einen angemessenen Umgang mit der Tragödie fanden, z.B. der Film „Schindlers Liste“.

Wie sieht es umgekehrt aus, mit den unzähligen, mehr oder minder gelungenen Propagandafilmen, in denen es heilige Pflicht des Helden ist, jeden Deutschen umzubringen, auf den er trifft? Ist das jetzt besser, oder sind auch Deutsche (selbst wenn sie Uniform tragen) Menschen, deren Leben einen Wert haben kann?

Indiana Jones ist immer der erste Film an den ich denken muss, wenn es um Nazis als Gegner geht: Nur ein toter Deutscher ist ein guter Deutscher….

Ein filmisches Meisterwerk und Propagandafilm in einem. Hollywood kann das.

Kein Film, sondern ein Computerspiel: In Castle Wolfenstein ist jeder Nazi sofort umzubringen.

Ist „crude and disrespectful“ eine Frage, wer hier das „Opfer“ ist? Darf es auf die Frage ankommen, zu welcher Gruppe ein Mensch gehört, oder muss jeder Mensch zwingend individuell betrachtet werden? Ich glaube an letzteres – ich muss aber auch keine Unterhaltungsprodukte verkaufen.

Es bleibt also festzustellen, dass ein Unterhaltungsprodukt durchaus in der Lage sein kann, mit realweltlichen Tragödien respektvoll und angemessen umzugehen. Es bleibt aber eher die Ausnahme. Zudem eignen sich Formate wie Komödien und auch Horrorgeschichten vielleicht besonders wenig für einen angemessenen Umgang.

Realweltliche Tragödien im Rollenspiel

Ob diese Gedanken auf Rollenspiele übertragbar sind, müsste man gesondert diskutieren: Anders als ein Film entsteht ja ein Rollenspiel erst am Tisch. Das gedruckte Buch ist ja nur die Anleitung, nicht mal das Drehbuch, geschweige denn das rezipierte Produkt.

Das erleichtert es zum einen: Verantwortlich sind ja die Spielerinnen und Spieler sowie SL, nicht der Autor. Andererseits kann und muss natürlich das Material passend aufbereitet sein.

Springen wir mal um. Warum will man überhaupt Vampire im Spiel haben?

Die Funktion von Monstern im Horror

Vampire, Werwölfe, Gestaltwandler, Geister und Shoggothen … Horrorgeschichten sind von Monstern bevölkert. (Dungeons auch, ja, aber V:TM ist wohl dem Horrorgenre zuzuordnen. Die v5 insbesondere!) Klar, Horror geht auch ohne Monster, aber sie scheinen eine wichtige Funktion für uns zu erfüllen. Oft dienen sie als Metapher für etwas Beängstigendes, was wir in uns oder anderen Menschen sehen. Die Wandlung des Werwolfs zwischen sanften Mensch und wilder, animalischer Mordbestie etwa ist eine Metapher für den Zustand des wilden Zorns, in dem man (selbst, oder ein (vielleicht geliebter Dritter) nur noch „Rot sieht“ und seine Gewaltbereitschaft nicht im Griff hat. Vampire stehen für die Angst vor dem nicht begreifbaren Tod, Gestaltwandler für das Gefühl, sein Gegenüber gar nicht wirklich zu kennen oder vielleicht auch für die Angst, den eigenen Sinnen nicht trauen zu können.

Ich kann also, indem ich ein Monster zum Gegenstand meiner Erzählung mache, ein ganz konkretes beängstigenden Gefühl herauspicken und zum Gegenstand der Erzählung machen. Es steht für diese konkrete, übersteigerte Angst, macht diese greifbar, erlebbar, und vielleicht sogar besiegbar: Ich mag den Tod nicht besiegen können, aber einen Vampir kann ich töten.

Monster als Metapher für reales Geschehen

Was in einer fiktiven Geschichte gut funktionieren kann, muss nicht notwendig auf die Realität übertragbar sein. Setze ich nämlich übernatürliche Monster in realweltliches Geschehen ein, wird es problematisch. Bleiben wir bei den Nazis: Wie konnte ein Volk so zu einer Bande von Mördern ohne Skrupel werden? Ist es nicht eine beängstigende Vorstellung, wie dünn der Lack der Zivilisation ist? Gedankenkontrollierende Monster können das erklären… Tötet man sie, ist das Problem gelöst. Ist das ein angemessener Umgang?

Warum sind wir – obwohl wir genau wissen, was wir gerade tun – nicht in der Lage, gegen den Klimawandel vorzugehen? Monster! Warum ist der Politiker korrupt? Monster!

Erkennbar keine gute Idee, unsere nicht bewältigten Probleme übernatürlichen Wesenheiten in die Schuhe zu schieben. Hier bietet es sich eher an, den Mensch und seine eingebauten Schwächen zu betrachten. Zu sehen, wie ein Mensch funktioniert, wie er manipulierbar ist, Gier und Eitelkeit gegen Vernunft, Güte und Moral zu stellen. Das Monster sind wir schon selbst; nur wer das erkennt, kann etwas dagegen tun.

Monster im realen Geschehen

„Achtung! Cthulhu“, Modiphius Entertainment Ltd, 2013

Ein Mittelding sind fiktive Monster im realen Geschehen. Beispiel: Nazi-Werwölfe im 2. Weltkrieg. Wenn zwar die Realität weiterhin von Menschenhand gestaltet wurde, aber vor diesen Hintergrund eine Monsterjagd gestellt wird – dann haben wir ja nicht das Problem, dass hier unsere menschengemachten Tragödien auf übernatürliche Wesen abgeschoben werden, oder?

Achtung! Cthulhu z.B. nutzt den 2. Weltkrieg als Kulisse. Eine Gruppe von Helden der Alliierten führt einen geheimen Krieg gegen Nazis mit okkulten Kräften. Diese wollen mit uralten Geheimnissen und im Verbund mit außerweltlichen Fraktionen schreckliche Monster auf die Welt loslassen, was unbedingt verhindert werden muss.

Ist das ein angemessener Umgang mit dem Horror der Genozide, die den 2. Weltkrieg geprägt haben? Relativiert es? Monetarisiert es die Nazi-Ikonographie? Oder ist die implizite „Tötungserlaubnis“ sogar eine Kopie der Nazi-Vorstellung, Leben als „Unwert“ zu definieren zu können, in Rollenspielform?

Oder ist es ein großer Spaß – und mit dem Archetypen des deutschen U-Boot-Kommandanten sogar sehr progressiv, weil auch ein deutscher Soldat ein Held sein darf, der für das Gute kämpft?

Fragen über Fragen, kaum Antworten.

Einfach ist das alles nicht. Offensichtlich spielt es eine Rolle, wie lange die Tragödie her ist: Dauert sie noch an, ist das Thema besonders sensibel. Besonders problematisch erscheint mir, dass wir „Orks“ im Rollenspiel gewöhnt sind: Böse Wesen, die man ohne Skrupel töten kann, ja muss. Diese spaßbeendenden Skrupel habe ich aber stets, wenn es um historische Figuren geht, also um Menschen.

Natürlich gibt es auch in meinen Rollenspielabenden nicht nur grau-in-grau. Es gibt auch mal Monster, die ohne Skrupel umgehauen werden dürfen – das gehört nun mal dazu. Ich achte nur darauf, dass es sich eben nicht um Menschen handelt.

Ein kleiner Exkurs: In meiner Runde gibt es zwei Sukkubi, deren Clan die Ausübung des ältesten Gewerbes der Stadt kontrolliert. Ich wollte an einer Stelle mal deutlich machen, dass hinter der glitzernden Fassade der Reeperbahn auch viel Dunkelheit liegt. Deshalb ließ ich eine Szene in einer Containersiedlung stattfinden, die von den Lebensverhältnissen von Wanderbauarbeitern in Deutschland inspiriert war. Das war einer (dritten) Spielerin schon viel zu viel… dabei sah man nur, wie eine Frau in ärmlichen Lebensverhältnissen die Tageseinnahmen an einen untergebenen Sukkubus weitergab. Im Ergebnis hat uns das ganze einen Rollenspielabend versaut, weil die Szene für die Spielerin, die selbst keinen Sukkubus spielte, die Realität viel zu hart an den Spieltisch geholt hat.

Warum habe ich das überhaupt gemacht? Einerseits war die Szene ein Versuch, die dunkle Seite der Prostitution (Abhängigkeit, Zuhälter, etc.) halbwegs angemessen zu würdigen und den beiden Spielerinnen der Sukkubi ein moralisches Dilemma anzubieten. Anderseits war meine Szene von Anfang an nicht geeignet, ein realistisches Bild dieses komplexen Sachverhalts zu bieten – es wäre (wäre ich wie geplant tiefer eingestiegen) sicherlich immer noch „crude and disrespectful“ gewesen; auch wenn ich anders intendierte. Aber ist es besser, diesen Teil der Realität ganz auszublenden?

Für mich komme ich zu dem Ergebnis, dass es ein sehr feines Gespürs bedarf, was man wie in sein Spiel einbindet. Etwas, was extrem schwierig ist! Fantasy ist als Genre für das Rollenspiel daher viel einfacher. Der Abstand zum hier und heute, die klare Grenze zwischen Gut und Böse – da kann man nicht viel falsch machen.

Andererseits geht ein zeitgenössisches Setting (wie Vampire oder in meinem Fall Urban Fantasy) natürlich viel mehr unter die Haut. Und für mich macht es das Rollenspiel viel, viel spannender und emotionaler.

Hier gibt es also wohl kein „richtig“ oder „falsch“. Hier gibt es nur ein „gut gemacht“ – oder eben auch nicht. Aber selbst ein „gut gemacht“ wird immer anecken – wie das Beispiel mit dem Titanic-Film zeigt. Ein Risiko, dass man m.E. in Kauf nehmen muss, wenn man nicht den langweiligen Einheitsbrei der Fantasy liefern will.