Hintergrundgeschichte als Spieler ins Spiel einbauen

Ich habe gegen langweiliges Charakterspiel gerantet und viel Zuspruch geerntet. Und noch mehr Widerspruch – in den Kommentaren, im Tanelorn und sehr ausführlich bei Pen & Podcast. Vielen Dank – so viel Feedback macht Spaß! Besonderen Gruß an die Crew des Pen & Podcast, die zu dem Beitrag eine sehr interessante Folge aufgenommen hat.

Heute will ich hier auf die Frage eingehen, wie man – als Spieler – seinen Hintergrund denn sinnvoll und spaßfördernd einbringt, ohne zu langweilen.

Bleiben wir bei dem Beispiel, dass der PC als Kind seine Eltern an eine Gewalttat verloren hat (NÄ NÄ NÄ BATMAN) und nun für sich Festlegung getroffen hat, dass er niemals Kindern Gewalt antun wird. Nach einigen Spielabenden will er nun die böse Königin töten, um so deren finstere Pläne zu vereiteln – sie scheint der Bossgegner zu sein. Als er den Dolche zückt, sieht ihn die niedliche Tochter der bösen Königin mit großen Kinderkulleraugen an und sagt: Mama? (Abb. ähnlich)

Bild von tobbo, CC0-Lizenz.

Er zögert. Drama. Die Musik schwillt an. Der Dolch zittert in seiner Hand. Nahaufnahme des Gesichts des Mädchens, eine erste Träne rinnt. Die Kamera schwenkt auf das Gesicht von PC1, der gerade… Ein lautes „HÄH?“ unterbricht, das Kratzen der Nadel über die Schallplatte ist zu hören, die Musik verstummt. Die Kamera fokussiert auf dem Gesicht der Spielerin von PC2, nennen wir sie Ela, die fragt: „WAS IST DENN NUN WIEDER? TÖTE SIE ENDLICH! ICH WILL LOOTEN!“

Tja, irgend etwas ist gerade schief gegangen. Das Dilemma von PC1 haben wir ja bisher noch gar erwähnt. Im Spiel kam es nie vor: Als wir noch auf Level 1 Ratten unter dem Wirtshaus gejagt haben, war es irgendwie nie wichtig. In der Kneipe, als PC1 seine liebevoll ausformulierte Hintergrundgeschichte (15 Seiten) vorlesen wollte, hat der böse SL sofort Ninjas durch die Fenster brechen lassen und so – wie immer – jedes Charakterspiel abgewürgt. Ela hat also das Dilemma von PC1 nie kennengelernt – und der von ihr geführte PC2 auch nicht.

Was kann man jetzt machen?

Als SL wäre jetzt ein Flashback ein opportunes Mittel gewesen. Warte mal… wieso als SL? Darf man als Spieler keinen Flashback haben? Klar darf man das, aber natürlich nur mit Gefühl für Spotlight und Timing. PC1 sollte keine Flashbacks haben, wenn Elas PC2 gerade mit ihren awesomz Powaz eine Horde Orcs wegflackt. Denn hier ist das Spotlight wohl auf gerade auf PC2 gerichtet, und ein Flashback sollte nicht dazu dienen, das Spotlight umzulenken. Es ist auch nicht gut, einen Flashback so zu legen, dass die Szene „kaputt geht“. Was ich damit meine ist etwas schwieriger zu beschreiben: Wenn z.B. der SL gerade versucht Tempo aufzubauen, eine Szene spannend zu machen, die Zeit zum Überlegen knapp zu machen, damit der Puls hochgeht: Dann ist ein Flashback auf dein besonderes Verhältnis als Elf zu Kieferbäumchen auch gerade deplaziert.

Wenn man mal von den Flashbacks absieht: Was kann man denn noch tun?

Lena Falkenhagen (OMG! DIE Lena Falkenhagen!) schreibt dazu als Kommentar unter meinen Rant:

Ich halte dagegen: Aber langweilig ist, wenn diese Eigenschaft plötzlich vom Himmel fällt, nur um sinnlos Drama zu verursachen.

Und hier kommen die von dir als “langweilig” empfundenen Szenen rein, die nämlich genau so etwas vorbereiten: Dass man ein Mutter-/Kindertrauma hat. Dazu braucht es eine Szene, in der eben weniger Action passiert. Und mit einer solchen Szene macht man den Spielleiter im besten Fall auch gleich darauf aufmerksam, dass man dieses Mutter-/Kindertrauma hat. Es entsteht ein Dialog.

Das ist die Perspektive einer Dramaturgin. Kann (und will) ich gar nicht verleugnen, das sie Recht hat. In einem Film (oder einer TV-Serie), in einem Buch würde ich das natürlich auch erwarten. Ein Anteasern des Dilemmas. Raistlin und Caramon (Dragonlance) machen das vor, und spielen damit Caramons Dilemma ständig an: Er, der große und starke Krieger, fühlt sich für seinen kleinen, schwächlichen und kränklichen Bruder verantwortlich. Der sieht sich selbst als gewaltigen Magier, nutzt Caramon aber gerne und oft aus. Gefühlt 50% der Dragonlance-Bücher drehen sich um das Verhältnis der beiden Brüder.

Aber ist das eine sinnvolle Strategie für das Rollenspiel? Klar, kann es sein. Wenn Raistlin und Caramon PCs sind, dann kann das gut funktionieren. Aber bei einem Dilemma, dass sich auf NPCs bezieht? Das benötigt viel Spotlight, dass nur ein Spieler bekommt (und den anderen fehlt). Und dieses Spotlight dann zu nehmen (wir betrachten die Spielersicht), wenn es gar nicht darauf ankommt? (Lenas Szene mit weniger Action). Und viel wichtiger: Als Spieler weiß ich ja nicht, ob der SL vorhat, mein Dilemma überhaupt anzuspielen!

Einen weiteren Gedanken hatte ich schon im Tanelorn:

Zudem kommt noch hinzu, dass es [gemeint war die Erwähnung von Hintergrund im Vorfeld] wohl auch zumeist auch verschwendet ist, weil die Fähigkeit von Menschen, sich Details zu merken, sehr begrenzt ist. Man nehme die von mir ungeliebten „Beschreibt euch mal!“-Szenen. Jeder erzählt etwas über seinen Charakter, was man von außen sehen kann – oft „rote Haare, Pagenschnitt, grüne Augen und ein blablabla-Gewand mit weichen Lederstiefeln und einem [Waffe] und [Gegenstand]. Sagen wir mal, alle Beschränken sich auf 7 Details. Mal 5 Spieler. 30 Fakten, die sich keiner merkt (und auch keiner merken kann!). Wenn jeder hinterher drei [der insgesamt 30 Fakten] noch weiß, dann ist das viel. Ähnlich dürfte das bei der kontextlos vorgetragenen Hintergrundgeschichte sein – schneller vergessen als gehört. Das mag bei mir extremer ausgeprägt sein als bei anderen (wie gesagt: Interesse hilft), aber im Ergebnis bleibt es trotzdem eine sehr ineffektive Methode der Informationsvermittlung.

Was ich damit sagen will: Dein Hintergrund wird vermutlich ungefähr so schnell vergessen, wie du ihn vorlesen kannst. Er interessiert nur dann, wenn du eine emotionale Anknüpfung schaffst. An einen NSC. An eine Szene. An etwas, was die anderen Spieler gerade interessiert. Ihnen hilft, oder sie behindert. Die kommen in Actionszenen eher vor (wobei Action hier jeden Konflikt meint, auch einen emotionalen) als in „ruhigen Szenen“. Ich behaupte also: Informationen, die in den „Szenen mit weniger Action“ präsentiert werden, haften weniger im Gehirn. Sie müssen entsprechend öfter wiederholt werden. Das kann dann auch mal anstrengend werden.

My Parents are dead.

Was kann ich also als Spieler tun?

  • Darauf achten, wenn der SL mein Dilemma anspielt. Wenn da ein weinendes Kind rumsteht, dann sprich es an. Es steht da für dich. Wenn neben den beiden Leichen, deren Ableben ihr gerade untersucht, ein leeren Kinderwagen gefunden wurde, dann will dein SL was von dir. Jetzt ist Zeit die Information loszuwerden. Aber: Show, don’t tell. Wenn du jetzt deine 15 Seiten Hintergrund rausholst, musst du sie auch aufessen. Spiel es aus. Sei nicht zurückhaltend. Geh zu weit. Hab Tränen in den Augen. Ramm es deinen Mitspielern rein, dass diese Szene für dich merkwürdig wichtig ist. Mach deutlich, das das wildfremde Kind dir etwas bedeutet – aber warum, dass kann gerne unklar bleiben. Ela guckt noch immer ihre Powercards an und summt die Tetris-Melodie in der Endlosschleife? DANN WARST DU NOCH NICHT DEUTLICH GENUG! Wenn sie aufblickt und (IC, hoffentlich) nachfragt… ja, jetzt kannst du von deinem Dilemma erzählen. Kurz. Danke. Ela bestimmt, wie viel du redest – hört sie auf zu Fragen, ist dein Spotlight vorbei.
  • Versuch mal (ggf., wenn bei euch am Tisch nicht üblich, in Absprache mit dem SL) Flashbacks selbst zu triggern. Wenig SLs haben damit ein Problem, wenn du nur Hintergrund dropst. Aber du kannst ja mal versuchen, das zu powergamen…
  • Wenn ihr so neuländisches Zeug mit Erzählrechten für Spieler spielt – dann sorg selbst dafür, dass dein Dilemma eine Rolle spielt.
  • Hilf den anderen! Wenn du weißt, was deren Dilemma ist (z.B. weil es prominent auf dem Charakterbogen steht (Looking at you, Fate) oder weil ihr zusammen Charaktere gebaut habt, dann spiel es an. Stell die Fragen. Sei ein bisschen SL und nutze deine Gestaltungsmacht im Spiel dazu, den anderen Spielern die Gelegenheit zu geben, Infos über ihre Charaktere zu dumpen. (Nicht übertreiben, bitte. Und guck auf Blechpirats Gesicht. Wird sein Blick glasig, beende die Szene hastig, damit der SL Ninjas schicken kann.)

Was kann ich als SL tun?

  • Wenn du Szene für Szene vor dem Spielabend vorbereitest (so etwa, wie es die meisten Kaufabenteuer wohl tun), dann kannst du versuchen, den Ratschlag von Lena zu beherzigen. Wenn das Dilemma in der Szene mit dem Höhepunkt des Spielabends eine Rolle spielen soll – dann gib dem Spieler am Anfang des Abends die Gelegenheit, die anderen über seinen Hintergrund zu informieren. Nicht als Tavernenszene, sondern als „kleinen Konflikt“: Die Spieler haben es eilig? PC1 kann entweder schnell sein, oder das Kind retten. Diese Sorte Konflikt meine ich.
  • Wenn du (wie ich) eher so ein „Story After“ Mensch bist (ich weiß vor dem Spielabend nur, was die Bösewichte sich für heute Abend vorgenommen haben), dann kannst du trotzdem versuchen, Spotlight-Abende zu machen. Ich versuche das schon, dass ich eben neben dem „Hauptplot“ auch immer noch Nebenplots habe, die sich um die Charaktere drehen. Ja, das Monster im U-Bahntunnel ist schrecklich, aber wenn PC1 seine Tochter nicht pünktlich bei seiner Ex-Frau abholt, dann entzieht ihm das Gericht das Sorgerecht für die Wochenenden! Nächste Woche geht es dann nicht mehr vorwiegend um Hauptplot und PC1s persönliche Nebenplots, sondern um Hauptplot und PC2s Nebenplots.
  • Wenn du wirklich, wirklich, absolut sicher bist, dass deine Spieler sich GERNE in der Taverne gegenseitig ihre Hintergrundgeschichte vorlesen bzw. dabei zuhören – dann darfst du alles vergessen, was ich hier erzähle. Aber was machst du dann hier? Das ist ein Rollenspielblog, keine Fachpublikation für das Hörbuchwesen!

Was kann ich als Regelwerk tun?

  • Ich kann das Dilemma aus der 15-seitigen Hintergrundgeschichte auf den Charakterzettel holen. (Ja, das ist schon wieder Lob für Fate). Ich kann es zu „Meta-Wissen“ machen, dass die SPIELER (nicht unbedingt die Charaktere) kennen. Das Das erlaubt dann übrigens den Spielern mehr Hilfestellung, siehe dazu oben. Oder wir können uns darauf einigen, dass wir off screen unser Tavernengespräch hatten…
  • Ich kann versuchen, den Widerspruch zwischen Powergamer und Dramaqueen aufzulösen. Wenn die Dramaqueen etwas dafür bekommt, ihr Dilemma auszuleben (hier: einen Fatepunkt) und deshalb in der Actionszene mehr rockt (wegen des Fatepunkts), dann wissen die Powergamer das in der Regel zu schätzen.

Noch Ideen? Ab in die Kommentare, oder ins Forum.

3 Gedanken zu „Hintergrundgeschichte als Spieler ins Spiel einbauen

  1. Das ist ein sehr, sehr lesenswerter Artikel, vor allem was die Interaktion mit den Mitspielern und den Umgang mit dem durch Flashbacks geschaffenen Spotlight angeht. Vielen Dank dafür!

    • Hihi… Auch wenn ich dir da (natürlich) Recht gebe – es ist schon ein spezieller Spielstil, der nicht jedem gefällt. Und natürlich auch nicht gefallen muss. Der Text war deshalb ein Versuch, „systemneutral“ Vorschläge zu machen. Das setzt aber im Grunde schon voraus, dass man als Spieler Verantwortung für das Gelingen der Runde übernimmt. Auch das ist nicht immer gewünscht – manche Spieler wollen das gerade nicht, weil sie ausschließlich aus der Perspektive ihres Charakters an das Spiel herangehen wollen. Das muss man nicht mögen, aber zumindest respektieren.

Kommentare sind geschlossen.