Fate kann keinen Crunch.
Ist das ein Problem? Offenbar z. B. für den Sprawldog, der Shadowrun mit Fate bespielen möchte. Und für Haukrin, der seinen Versuch, Eclipse Phase zu verfaten aber leider offline genommen hat. Und auch irgendwie für mich, als ich Narr versuchte, Aventurische Magie im Stile von DSA 4.1 abzubilden.
Jeder hat da so seine Ansätze gewählt:
- Haukrin, wenn ich mich richtig erinnere, indem er auf Stress verzichtet, aber Gegenstände mit Konsequenzen ausstattet. Man „verbraucht“ also Gegenstände und macht sie damit mechanisch bedeutsam. Ggf. konnte er sein Ziel erreichen (ich habe nur Gutes über die Testrunden gehört), aber mir kam das immer etwas frickelig vor. Und fast schlimmer noch: Ein Bruch in der Designphilosopie: Fate ist gerade deshalb eines meiner Lieblingsspiele, weil es auf Ausrüstungslisten verzichtet.
- Sprawldog hat eine Idee aus dem Fate Codex angepasst: Auf den ersten Blick ganz clever hat er das alte Attribut+Fertigkeit durch Methode+Fertigkeit ersetzt: Jetzt kann man bei ihm „cool“ Antimagie wirken und „brutal“ seinen Lebensstil führen (oder so :) ) Ausdrücklich ein Vorteil für ihn: Eine Stellschraube mehr.
Braucht man das? Crunch wird verlangt:
- Meine Lebensgefährtin, schwerst DSA-sozialisiert, vermisst an Fate das Element des vertikalen Wachsens – die Milestones geben ihr nicht die Erfüllung des „hochlevelns“, dass ihr klassische Rollenspiele geben. Zudem bemängelt sie selbst bei Dresden Files, dass ihr die Magie nicht crunchig genug ist. (Ich diagnostiziere, dass ihr der creative restraint fehlt, denn sie findet Ars Magica vorbildlich. Sie findet findet meine Diagnose Quatsch…)
- Stéphane, der das freie an dem System ungefähr so gerne mochte wie ein Goldfisch Wasser, bemängelte hinterher, dass er doch etwas enttäuscht war, für eine (zugegeben wirklich) geniale Aktion einen bloßen +2 Bonus erhalten zu haben. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das auch ein Crunch-Problem ist, aber der Vollständigkeit halber habe ich es mal aufgeführt. Immerhin hätte er in vielen anderen Systemen durch den Crunch eher Mali für die Aktion erhalten.
- Und dann gibt es noch die MSch-Schule der „Immersion durch das Sammeln von Boni“: Durch die Lektüre des Regelbuches und den Versuch, möglichst viele Boni zu akquirieren wird die Spielwelt lebendig. Jedenfalls für MSch.
- „Förmchen und Schäufelchen“: Die Gruppe der Spieler, die Fate deshalb nicht mögen, weil es ihnen nicht sagt, was sie tun dürfen. In meinem Kopf werfe ich solchen Spielern immer einen gewissen Mangel an Einsatz und Proaktivität vor, aber eigentlich ist das ein bestimmter Spielertyp, dem es keinen Spaß macht, was Fate an Werkzeugen bietet. Das es mir nicht so geht, kann ich aber keine echte Aussage dazu treffen, was diese Gruppe (wenn sie überhaupt insoweit homogen ist) braucht.
Natürlich gibt es auch Leute, denen selbst Fate zu viel Crunch ist. Mein Lieblingsobjekt der Beobachtung ist insoweit Norbert, der in seinem rollenspielerischen Selbstfindungsversuch „Analogkonsole“ ständig die Regeldichte (von „praktisch nicht vorhanden, aber eher mit würfeln“ bis gefühlt etwa DSA1) variiert und doch nie das richtige Maß für lange finden kann.
Einer der großen Vorteile von Fate ist es, Modifikationen des Regelwerks (wie die von Sprawldog und Haukrin) sehr tolerant hinzunehmen. Die Frage ist eher, ob man einen Gewinn erzielt, wenn man die Komplexität hochdreht. Im Fall von Sprawldog (auf dessen Artikel dieser hier so eine Art Replik ist) möchte ich das mal verneinen. Er schreibt:
Wenn man davon ausgeht, das eine Spielfigur in jedem System bei A startet und jeweils bis Z gespielt wird, spielt man – die bloße Quantität an potentiellen Wertveränderungen auf dem Charakterbogen bewertend – bei einem Rollenspiel wie Shadowrun jeden einzelnen Buchstaben durch, bis man am Z angelangt ist. Bei Fate Core hingegen, bedeutet jede (vertikale) Veränderung dementsprechend 2 bis 4 Buchstaben auf einmal, während man bei denen dazwischen „nur“ horizontale Veränderungen vornimmt. Ein Ende wäre entsprechend schneller erreicht.
— Sprawldogs
Mal abgesehen davon, dass ich den letzten Satz nicht verstehe, ist das etwas, was auch meine Lebensgefährtin bemängelt. Sie kann 10 Staffeln Supernatural durchgucken (ohne das Sam und Dean in ihren abenteuerrelevanten Fertigkeiten besser geworden wären), aber bei einem Supernatural-Rollenspiel würde sie diese von Sprawldog zutreffend als „vertikale Veränderung“ bezeichnete Verbesserung ihrer Werte vermissen – obwohl es in der Fernsehserie eigentlich vor allem um das Verhältnis der Brüder zueinander geht, in der Terminologie von Sprawldog eine „horizontale Veränderung“. Der Serie ist es wichtiger, ob Sam Dean vertraut oder nicht, ob Dean vor Sam ein Geheimnis hat, wie sich Sams Liebe zu einer Frau auf die Beziehung zu Dean auswirkt, etc., etc., etc. Das sind Dinge, die Aspekte betreffen und durch eine Änderung der Aspekte abgebildet werden können – horizontale Veränderungen, denn niemand wird dadurch besser. Nach puren Fähigkeiten würde ich behaupten, dass die beiden Hauptdarsteller eher Wellenbewegungen erfahren – sind sie mächtiger, dann eher weil sie gerade von einem Dämon besessen sind, der mit ihnen kooperiert, aber die Macht geht verloren, wenn der Dämon geht. In irgendeiner Staffel kann Sam mal zaubern, aber auch das vergeht wieder – es gibt nämlich praktisch keine vertikale Entwicklung der beiden.
Interessanterweise lehnt meine Lebensgefährtin die konsequente Art des (zumindest mechanisch) ausschließlich vertikalen Aufstiegs nach Art von D&D 3.5 ab. Sie möchte schon alle paar Spielabende besser werden, aber nicht so, dass der Ork-Bossgegner aus dem ersten Abenteuer irgendwann keine Gefahr mehr wäre, weil man jetzt als Level 20 über normale Orks nur noch lacht.
Löst jetzt der von Sprawldog gewählte Ansatz sein Problem (oder das meiner Lebensgefährtin)? Meines Erachtens nicht. Denn wenn er den vertikalen Aufstieg will, muss er entweder bei den Fertigkeiten oder den Methoden „hoch“ gehen. Die Ergebnisse steigen also und verlassen dann irgendwann den Ergebnisraum von Fate, der etwa von -2 (Terrible) bis +8 (Legendary) geht. Und zudem auch gar nicht absolut ist: Spiele ich mit Fate göttergleiche Wesen, dann bedeutet eine legendäre (+8) Herausforderung etwas anderes, als wenn ich „We be Goblins“ spiele.
Gunporn als Crunch-Selbstzweck
Bestimmte Spiele (Shadowrun bestimmt, aber eigentlich auch D&D) sind Gun- oder genauer Equipmentporn. Am krassesten war das vielleicht sogar bei Cyberpunk 2020, weil dort die Möglichkeiten des Steigerns von Werten (Fertigkeiten und Attributen) sehr beschränkt war. Aber Geld und damit tolle Ausrüstung konnte man einfach so erspielen. Und wenn das bedeutet, dass mein Wert auf „Schießen“ nicht mehr steigen kann, ich aber über eine bestimmte Waffe einen Bonus erhalten kann – dann wird das wichtig. Cyberware ersetzt Attributssteigerungen, bei D&D ist das Schwert+5 das Maß aller Dinge. Das fällt bei Fate alles weg. Kein Barbiespiel mehr, in dem man seinem Charakter durch die Wahl eines passenden Stiefelpaares die Fähigkeit zu fliegen gibt. Fehlt uns was? Oder nervt uns mit 40+ nur noch, ewige Ausrüstungsbände und Waffensammlungen zu studieren?
Fazit
Ich verstehe den Reiz daran, zusätzliche Crunchelemente an Fate anzuflanschen. Strands of Fate war sicherlich der extremste Versuch. Der Vorteil von Crunch ist ein eigener (hoffentlich zweiter) Belohnungsmechanismus – der, der in Computerspielen als „Grind“ bezeichnet wird. Ich muss spielen, weil ich … will – WoW-Spieler kennen das bestimmt, wenn der Charakter hochgelevelt wurde, wird nach Ausrüstung und Nahrung gegrindet, damit man – wenn es beim Raid drauf ankommt – gut ausgestattet ist. Das gleiche kann man bei D&D auch beobachten, wenn auch etwas schwächer ausgeprägt.
Narrative Spiele haben diesen zweiten Belohnungszyklus nicht. Die reine Fassung (ich habe z.B. Fiasco oder Risus im Kopf) hat gar keinen Belohnungskreis, der über die erzählte Geschichte hinausgeht. Fate ist deshalb verlockend, weil es ja eigentlich eine Mischform zwischen narrativen Spiel und klassischerem Herangehen ist. Es bietet eben gerade genug Crunch, um zu verlocken. Aber warum spielen wir dann nicht GURPS oder andere sehr regellastige Spiele? Weil uns Crunch als Selbstzweck nicht attraktiv erscheint. Weil wir Geschichten erzählen wollen. Weil wir im Spiel nicht durch die Mechanik gebremst, sondern unterstützt werden wollen. Fate Core trifft an dieser Stelle für mich den Sweet Spot zwischen „nicht stören“ und „helfend eingreifen“. Dieser Punkt mag für jeden SL und jeden Spieler an anderer Stelle liegen (für mich, der ungerne im Kopf rechnet, ist z.B. auch der überschaubare Zahlenraum von Fate dabei hilfreich, anderen mag das egal sein). Die Aspekte sind für mich die Leitfäden der Geschichte und helfen beim gemeinsamen Erzählen. Das ist kaum noch zu verbessern.
Zusätzlicher Crunch muss also entweder
a) den Fokus auf einen narrativen Aspekt lenken, der wünschenswert ist (ein Beispiel ist schwierig zu finden, weil sich extrem viel über Aspekte regeln lässt)
b) einen beträchtlichen Mehrwert auf anderer Ebene bringen.
Beides sehe ich nicht. Bei Punkt a) dachte ich zunächst an Frodos Verhältnis zu DEM Ring – kann hier eine zusätzliche Regel helfen? Eher nicht, glaube ich – mal abgesehen davon, dass die übrigen Gefährten den Ring nicht haben (und daher die Regel nicht brauchen) ist das Verhältnis zwischen Frodo und Ring horizontal. Frodo gewinnt nicht an Macht, verliert nicht mal Willensstärke (z.B. im Verhältnis zu Sam), sondern es wird immer fraglicher, ob er den Verlockungen des Ringes widerstehen kann. Also: Ein sich ändernder Aspekt. Selbst wenn ich Hero oder House of the flying Dagger betrachte, sehe ich im Vordergrund die Beziehung der Charaktere zueinander – nicht Stunts, um bestimmte semi-mystische Kampfsportdinge zu tun. Wenn das Setting sagt, dass ich mich mit dem Schwert an der Wasseroberfläche abstoßen kann, dann brauche ich das nicht verregeln.
Und b) wird es wohl nicht geben. Wenn ich einen mechanischen Belohnungszyklus (Fight-Kill-Loot) will, muss ich auf die narrativen Elemente verzichten. Entweder ist Cyberpunk 2020 ein Söldnerspiel mit cooler Cyberware-Liste oder eine Geschichte noir-artig hoffnungsloser Idealisten, in einer dystopischen Zukunft winzige Reste ihrer Menschlichkeit zu erhalten trachten und dafür auch morden und sterben. Aber nie beides. Und ich will den narrativen Teil eigentlich auch gar nicht in die Cutscene zwischen dem Gameplay legen…
Ich habe das Leveling schon immer als Widerspruch zu den Inhalten der Storys und Abenteuer gewertet, die als Inspiration für das Rollenspiel dienten. Selbst wenn man in die Urzeit des Hobbys zurückgeht und sich anschaut, was Gygax und Arneson als Ideenlieferanten und Vorbilder heranzogen (dokumentiert im mythisch überhöhten „Appendix N“ des Dungeon Master Guides), findet man kaum Heroen, die sich vertikal veränderten.
Beim alternden Conan sehe ich noch sowohl vertikale als auch horizontale Veränderungen, aber bei Jirel, Fafhrd oder dem unsterblichen Kane? Nein.
Ich glaube, daher kommt auch mein Desinteresse an High Level D&D. Ich kann gut damit leben, ewig in meinem Sweet Spot zwischen Level 3 und 6 zu hocken – der Moment, in dem die Charaktere schon etwas „rocken“, aber eben nicht omnipotent sind und immer noch Ressourcenmanagement betreiben müssen.
Dann wird aber wieder das Problem spürbar, dass die Charaktere nur geringe mechanische Änderungen erfahren, und auch wenn ich eher auf der anderen Seite des Schirms sitze, kann ich das den Spielern sehr nachempfinden.
Du Storygamer :)
Aber jetzt der Knackpunkt: Ist das Leveln „Gewohnheit“ oder seperates und aus sich heraus Spielspaß erzeugendes Spielziel?
Natürlich ist es Gewohnheit.
Alle frühen Spiele (mit Ausnahme von Traveller) erlauben teilweise heftige Veränderungen der Spielwerte. Alle Spiele haben den Platzhirsch D&D nachgeahmt, teilweise ohne zu reflektieren. (Warum haben T&T und RQ Attributswerte, die mit 3w6 bestimmt werden? Sogar Earthdawn hat sich nicht entblödet, diesen Zahlenraum zu verwenden, obwohl er dort überhaupt nicht benötigt wird.)
Aus dieser Gewohnheit ist allerdings schnell ein eigener Spielstil geworden. Min-Maxing, Monty Haul und Munchkinismus sind daraus erwachsen.
Ich beschäftige mich gerade mit Warhammer FRP (auch um zu ergründen, warum ich, der ich Prozentsysteme verabscheue, bei WFRP einen „blinden Fleck“ habe) und hadere ganz besonders mit dem Erfahrungssystem und den Karrieren. Die sind ja das Alleinstellungsmerkmal des Systems, aber auch der größte Kritikpunkt: Um mechanische Veränderung zu erfahren, muss ein Charakter seinen Beruf ÄNDERN. Man kann kein besserer Bettler, Bürger, Beutelschneider werden – ein Advokat ist immer nur Advokat, er wird niemals zum Staranwalt. Ändert er hingegen seine Karriere, stehen ihm plötzlich Steigerungen der Int, Fel etc. offen, die ihn zweifellos auch zu einem überzeugenderen Anwalt machen würden – nur dass er jetzt nicht mehr in diesem Feld tätig ist…
Hmm. Interessante Überlegungen. Vermutlich sollte man das als Feature und nicht als Bug sehen, weswegen mich wohl auch nicht lange halten könnte. Ich mag Crunch, wenn auch nicht in Form von Gunporn oder riesigbreiter Auswahl (z.B. Pathfinder), aber ein eleganter Mechanismus macht mich an, allein z.B. was DCC als kleine Subsysteme in den Klassen versteckt, da flipp ich vot Begeisterung und Jubel aus (wird vermutlich kaum jemand verstehen, es ist aber schlicht genial 2W16 beim Zweikampf zu verwenden (statt 1 oder 2 W20), dass ich mich fragen musste, warum man das nicht schon immer so machte).
@Supernatural: Die wird ja vielen auch nach der 5 Staffel langweilig?
Ich mag elegante Mechaniken auch. Aber so richtig Genuss versprechen sie mir vor allem im Bereich Brettspiel – beim Rollenspiel will ich die Mechanik nur in den genannten Fällen „sehen“.
Tatsächlich ist das fehlende „Hochleveln“ auch in unserer Gruppe ein Kritikpunkt, den ich auch mit erweiterung der Pyramide und zusätzlichen Stunts und/oder Fatepunkten nicht befriedigt bekomme :)
Irgendwie ist der der Tote Ork der 15XP bringt doch mehr wert als nur ein toter Ork
Wie geht es dir, wenn du Spieler bist? Vermisst du dann das Leveln? Ich bin leider so selten Spieler, dass ich das Problem auch fast nur noch durch die SL-Brille sehe.